Mehr als 600.000 Follower - das Technik- und Verbraucherportal Chip.de, das reichweitenstärkste im deutschsprachigen Raum, spielt auch auf TikTok im Konzert der Großen mit und gehört auf der angesagtesten Social Media-Plattform zu den absoluten “Big Playern”. Doch der Schein trügt. Seit mittlerweile einem Jahr tut sich wenig bis nichts auf dem Firmenaccount: Kaum Content und noch weniger Interaktion mit einer immer noch großen Community, die jedoch konstant um monatlich bis zu 2.000 Follower schrumpft. Einst ein TikTok-Pionier und zwischendurch sogar der zweitgrößte Brand-Account im DACH-Raum nach dem Social Media-Giganten Red Bull, nun in einem Prozess des schleichenden Niedergangs. Was ist passiert?
Blicken wir ungefähr zwei Jahre zurück. September 2019 hatte das Unternehmen den richtigen Riecher und bewies gleichzeitig Mut. Zu einem Zeitpunkt, als die meisten noch nicht einmal wussten, was TikTok ist, geschweige denn wie man es bespielt, veröffentlichte Chip bereits regelmäßig Content und erreichte teilweise beachtliche Klickzahlen. Mehrere MitarbeiterInnen alberten vor der Kamera herum, stellten neue Produkte vor oder gaben interessante Insights zu Smartphones, Laptops oder e-Scootern. Die Videos wurden professioneller, die Optik ansehnlicher, kurz: Die TikTok-Rädchen des chip.de-Accounts griffen immer besser ineinander. Das drückte sich auch in der Followerzahl aus. Diese stieg konstant an, vor allem in der ersten Hälfte des Jahres 2020 wuchs die Community im Eiltempo auf mehr als eine halbe Million.
Was schnell auffiel: Mittlerweile übernahm vor allem ein Mitarbeiter das Kommando. Jamal Fischer führte mit gleichermaßen unterhaltsamen wie scharfen Analysen durch die neuesten technischen Trends, gab wertvolle Alltagstipps, etablierte nach und nach ein Design, wodurch mit der Zeit ein deutlicher Wiedererkennungswert entstand, kurz: Jamal gab dem Account ein Gesicht. Die Community feierte seine kurzweilige Kameraführung, die Ansprache, die Witze und natürlich sein Fachwissen. Selbst dem Laien wurde schnell klar, dass er ein gewisses Talent besitzt, vor der (Handy-)Kamera zu stehen. Und genau hier begann der Anfang vom (vorläufigen) Ende, denn auch Jamal erkannte das. September 2020, fast genau ein Jahr nachdem das TikTok-Abenteuer von Chip begonnen hatte, verkündete er deshalb sein Ende und stellte Kollege Bene als Nachfolger vor. Doch während Jamal unter seinem privaten Account DasIstJay einfach da weitermachte, wo er aufgehört hatte, geriet der chip.de-Account ins Stocken. Das Feedback war nicht das beste, die Views wurden weniger, das Followerwachstum nahm ab.
Zugegeben: Bene übernahm einen höchst undankbaren Job. Es ist nie leicht, eine beim Publikum beliebte Person zu ersetzen - frag nach bei Markus Lanz -, und es gebührt ihm Respekt, dass er sich dessen überhaupt annahm. Doch das änderte nichts an der Situation. Der Drive war weg, die Community wandte sich ab und folgte Jamal, der ein halbes Jahr nach dem Start seines Soloprojekts bereits den alten Arbeitgeber überflügelte und heute über 700.000 Follower zählt. Bene warf irgendwann das Handtuch, der Account kam praktisch zum Erliegen. Wie hätte das vermieden werden können?
Die Ursachenforschung fällt vergleichsweise kurz aus und ist schnell erklärt: Es wurde zu kurz gedacht, Chip machte sich abhängig von einem Mitarbeiter und verpasste es, diesen langfristig zu binden. Eine Konstellation, die wohl in keiner Lebenslage vorteilhaft ist. Jamal machte seine Sache zwar ausgezeichnet, doch das Unternehmen war auf seinen Weggang - eine legitime Entscheidung - nicht vorbereitet, diesen Anschein hatte es zumindest nach außen. Mit ihm ging quasi alles, wofür der TikTok-Account stand. Richtet man sich derart stark auf eine einzige Person aus, muss man diese möglichst langfristig incentivieren und halten. Selbst das garantiert natürlich keinen ewigen Verbleib, doch muss zumindest eine gewisse Zeit zur Übergabe eingeplant werden, zum Beispiel indem die neue Person über einen bestimmten Zeitraum an der Seite der scheidenden vorgestellt wird, erste eigene TikToks dreht, mit der Community in Austausch tritt. Im Hintergrund erfolgte die Übergabe sicherlich fundierter, doch die Community wurde mit einer kurzen Bekanntgabe per Video überrumpelt. Für User, die dem Account täglich folgen und sich auf neue TikToks freuen, ein nicht zu unterschätzender Schock. Versuchen wir uns in die Lage zu versetzen: Sind wir große Fans einer Serie, einer Show, eines Podcasts oder Ähnliches, dann wären wir wohl ebensowenig amüsiert, sollte die Hauptfigur kurzerhand ausgewechselt werden.
Eine noch bessere Option wäre es, die Verantwortung von Anfang an auf mehrere Schultern zu verteilen. Natürlich ist dies oft eine Ressourcenfrage, denn wie wir wissen, führt sich ein TikTok-Account nicht einfach mal so, sondern stellt quasi einen eigenen Arbeitsbereich dar. Doch eher sollten zwei MitarbeiterInnen die Aufgabe unter sich aufteilen, als dass alles bei einer Person zusammenläuft, denn es gibt weitere Gründe wie beispielsweise ein krankheitsbedingter Ausfall, der plötzlich die gesamte, auf eine Person zugeschnittene Person ausgerichtete Strategie über den Haufen wirft. Diesen Weg schien Chip zu Beginn sogar zu gehen; neben Jamal waren auch weitere MitarbeiterInnen auf dem Kanal präsent. Doch seine Expertise und die Qualität des Contents nahmen den Verantwortlichen die langfristige Sicht.
Und jetzt? Es wäre schade, ließe Chip den TikTok-Account weiter vor sich hinvegetieren. Noch immer verfügt man auf der Plattform über eine Community, die sich andere Unternehmen wünschen. Den verlorenen roten Faden sollte das Social Media-Team wieder aufnehmen und sich neu aufstellen. An Jamals Performance anzuknüpfen, wird schwierig sein, zumal er seine Position als Solo-TikToker nach und nach festigt und die Technik-Nische dominiert. Doch TikTok bietet derart viele Ansätze, einen Account erfolgreich zu bespielen, dass dieses Projekt nicht einfach so im Sande verlaufen sollte. Klar Schiff machen, das letzte Jahr offen als verkorkst abhaken. Neue, charismatische Gesichter (ja, Plural!), ein ebenso neuer Ansatz, z.B. mit verstärktem Fokus auf Gamification oder stärkerer Interaktion mit der Community. Ein neues Design, das für Aufbruch steht. Die Optionen sind zahlreich - von alleine werden sie sich jedoch nicht umsetzen.